Priv.-Doz. Dr. med. Christian S. Keßler
Hohe Nutzung von Naturheilkunde, Komplementärer und Integrativer Medizin

Aktuelle Studie liefert neue Daten zu Inanspruchnahme und Akzeptanz
Naturheilkunde, Komplementäre und Integrative Medizin werden von einem großen Teil der Bevölkerung genutzt
Wie die Bevölkerung Verfahren aus dem Bereich der Naturheilkunde, Komplementärmedizin, Integrativer Medizin und Alternativmedizin nutzt, hat ein Forscherteam der Charité Berlin und der Universität Bamberg im Rahmen einer bevölkerungsrepräsentativen Online-Umfrage untersucht. „Die häufig positive Einstellung zu solchen Verfahren in der Bevölkerung Deutschlands hat uns nicht überrascht“, sagt Studienmitinitiator Priv.-Doz. Dr. med. Christian Keßler. Im Interview mit der Initiative Gesunde Vielfalt erläutert er weitere Ergebnisse und Hintergründe.
Wer hat die Studie gemacht, Herr Dr. Keßler?
Die Studie ist ein Gemeinschaftsprojekt von zwei komplementärmedizinischen Arbeitsgruppen an der Charité Universitätsmedizin Berlin und einer soziologischen Arbeitsgruppe der Otto-Friedrich-Universität Bamberg.
Warum ist die Studie gerade jetzt so relevant?
Uns fehlten schlicht aktuelle Zahlen zur Inanspruchnahme solcher Verfahren für Deutschland, um sinnhafte Vergleiche anstellen zu können. Ältere Erhebungen zeigten, dass naturheilkundliche Verfahren von etwa 50 bis 70 Prozent der Bevölkerung in irgendeiner Form im Leben genutzt werden oder wurden. Doch wie sieht das aktuell aus? Hauptziel dieser Querschnittsstudie war es, ein aktuelles Bild zur Nutzung und Akzeptanz dieser Methoden in Deutschland zu bekommen.
Wie wurde die Studie konzipiert und ausgeführt?
Die Befragungsstudie ist eine sogenannte Querschnittsstudie. Mit diesem Verfahren erhält man eine Momentaufnahme zu einem Thema. Die Umfrage wurde online-repräsentativ unter Miteinbeziehung von renommierten Meinungsforschungsinstituten in Deutschland erhoben. Ausgewertet wurden die Antworten von insgesamt 4 065 Teilnehmerinnen und Teilnehmern – 47,9 Prozent waren männlich, 51,7 Prozent weiblich – im Alter von 18-75 Jahren. Die Teilnehmenden wurden zu Inanspruchnahme und Akzeptanz von Naturheilkunde, Komplementärmedizin, Integrativer Medizin und Alternativmedizin befragt.
Was verbirgt sich hinter dem Begriff TCIM, und versteht die Bevölkerung diese Bezeichnung?
In der englischsprachigen Ergebnispublikation verwenden wir die Abkürzung TCIM, das steht für „Traditional, Complementary and Integrative Medicine“ (deutsch: Traditionelle, Komplementäre und Integrative Medizin). Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) verwendet diesen Begriff als umfassenden Oberbegriff für das gesamte Themenfeld. In Deutschland sind die Begriffe Komplementärmedizin und Integrative Medizin eher im medizinisch-akademischen Kontext etabliert – die Umfragedaten legen aber nahe, dass in der deutschen Bevölkerung eher Begriffe wie Naturheilkunde und Alternativmedizin bekannt sind und verwendet werden. Im Englischen bildet TCIM den gesamten Bereich als Überschrift relativ gut ab.
Bleiben wir beim Oberbegriff: Wie steht die Bevölkerung zu TCIM?
Die wichtigsten Ergebnisse der Befragung:
Wie beurteilen Sie das Ergebnis?
Die relativ hohen Zustimmungswerte im Rahmen dieser Online-Befragung haben uns nicht wirklich überrascht. Das Ergebnis bestätigt im Wesentlichen vorherige Studienergebnisse, die jedoch schon über zehn Jahre alt sind und auch nicht so stark auf Details zu Akzeptanz und Inanspruchnahme eingegangen sind. Die Zahlen legen nahe, dass die Bevölkerung zum Themenfeld TCIM differenzieren kann und sich überwiegend für kooperative Medizinmodelle ausspricht. Anders formuliert – die Befragten wünschen sich oftmals weniger Schulmedizin oder Naturheilkunde, sondern eine Kombination (Integrative Medizin) oder eine Ergänzung (Komplementärmedizin) mit unkonventionellen Verfahren.
Bei welchen Erkrankungen werden naturheilkundliche Methoden oder Anwendungen eingesetzt?
In Deutschland werden sie am häufigsten bei Erkrankungen des Bewegungsapparats (17,3 Prozent) eingesetzt, gefolgt von Allergien (12,6 Prozent), Kopfschmerzen (12,2 Prozent), psychischen Erkrankungen (11,6 Prozent) und akuten Atemwegserkrankungen (10,2 Prozent).
Welches Fazit ziehen Sie aus der Studie?
Die Ergebnisse der Umfrage-Studie, die auf eine verhältnismäßig hohe Akzeptanz und Inanspruchnahme naturheilkundlicher Methoden in Deutschland hinweist, sollten stärker in der Gesundheitspolitik Berücksichtigung finden. Auch müssen TCIM-Methoden weiter systematisch wissenschaftlich untersucht werden, denn in vielen Bereichen fehlen nach wie vor belastbare wissenschaftliche Daten zu Wirksamkeit, Sicherheit und Kosteneffizienz dieser Verfahren. Solche Studiendaten wären sehr hilfreich für einen differenzierten und unaufgeregten gesellschaftlichen Diskurs zu diesem Themenfeld.
Was sollten diese Ergebnisse ihrer Studie in der Ärzteschaft auslösen?
Meine Meinung ist, dass ganz gleich, welche individuelle Haltung Ärzte und Ärztinnen zu Naturheilkunde und Komplementärmedizin haben, es wichtig und hilfreich ist, sich zumindest in Grundzügen mit diesem Thema zu befassen – denn ziemlich viele Patientinnen und Patienten beschäftigen sich aktiv damit. Und es ist in jedem Fall hilfreich und nicht selten auch therapeutisch relevant, ein Bewusstsein dafür zu haben, was unsere Patientinnen und Patienten neben der konventionellen Medizin sonst noch alles machen, um aktiv zu ihrem Heilungsprozess beizutragen. Auch deshalb gehört das Themenfeld TCIM weiterhin in die universitäre Ausbildung.
Studie: Use and acceptance of traditional, complementary and integrative medicine in Germany-an online representative cross-sectional study /
Veröffentlicht in: Frontiers in Medicine, 13. März 2024
Autorinnen / Autoren: Michael Jeitler, Miriam Ortiz, Benno Brinkhaus, Mike Sigl, Rasmus Hoffmann, Miriam Trübner, Andreas Michalsen, Manfred Wischnewsky, Christian S Kessler
Eine Pressemitteilung zu diesem Interview finden Sie hier: Naturheilkunde, Komplementäre und Integrative Medizin werden
von einem großen Teil der Bevölkerung genutzt
Kurz-Vita
Dr. med. Christian S. Keßler
Priv.-Doz. Dr. med. Christian S. Keßler ist Oberarzt der Abteilung Naturheilkunde am Immanuel Krankenhaus Berlin und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Charité Universitätsmedizin Berlin. Besondere wissenschaftliche Schwerpunkte sind die Erforschung traditioneller Medizinsysteme, pflanzenbasierter Ernährungsformen sowie von Natur- und Waldtherapie. Zudem ist er studierter Indienwissenschaftler.
