Integrative Medizin: Über die Chancen einer kombinierten, ganzheitlichen Medizin

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Die moderne Medizin steht weltweit vor neuen Herausforderungen. Nicht nur die Zunahme chronischer Erkrankungen und multiresistenter Keime, auch eine immer älter werdende Gesellschaft erfordert neue Behandlungsansätze. Die damit einhergehende Kostenexplosion und Komplexität scheinen vielfach überwältigend. Reformversuche, die Kostenreduktion und Standardisierung als alleinige Ziele haben, verursachen gesundheitspolitisch eine Schieflage und drohen dabei indes aus dem Blick zu verlieren, um was es in der Medizin doch vorrangig geht: Das Wohl der Patienten, d.h. ihre individuell optimale Versorgung und den Genesungsprozess.
Integrative Medizin setzt genau hier an und stellt nicht die Krankheit in den Mittelpunkt, sondern den Patienten selbst, sein Lebensumfeld, seine persönlichen Bedürfnisse sowie seinen individuellen Weg zur Gesundheit. Mit Respekt und Empathie möchte der Behandler dem Patienten mit Therapieangeboten die Behandlungsoptionen eröffnen, die von ihm gewünscht sind. Integrative Medizin steht somit für konsequente Patientenorientierung. Zugleich fordert und fördert sie
Selbstverantwortung. Damit bietet Integrative Medizin einen Behandlungsansatz, der gleichermaßen medizinisch wirkungsvoll wie ökonomisch sinnvoll ist.

Definition Integrative Medizin


Integrative Medizin vereint konventionelle und komplementäre Therapiemethoden zu einem sinnvollen Gesamtkonzept. Sie stellt den Patienten mit seinen Bedürfnissen und Erfahrungen in den Mittelpunkt. Sie versteht sich interdisziplinär. Sie arbeitet auf wissenschaftlicher Basis und bezieht damit das professionelle Erfahrungswissen ein.

Wie arbeitet die Integrative Medizin?

Ausgehend von einer schulmedizinischen Basis kommen in der Integrativen Medizin evidenzbasierte Komplementärmedizin und gesundheitsfördernde und lebensstilmodifizierende Maßnahmen zum Einsatz. So entsteht ein Miteinander verschiedener Fachgebiete und Therapieansätze, die sich gegenseitig ergänzen und verstärken. Einen besonderen Fokus legt die Integrative Medizin auf Prävention und Selbstfürsorge der Patienten, indem sie edukative Maßnahmen vermittelt. Ein weiterer Fokus erstrebt eine starke und kooperative Therapeuten-Patienten-Beziehung. Integrativ orientierte Therapeuten und Apotheker arbeiten multimodal, präventiv und nah am Menschen und wählen dafür aus verschiedenen Medizinrichtungen das jeweils optimale Angebot. Bei einem Schmerzsyndrom können etwa neben der konventionellen Therapie so unterschiedliche Verfahren wie Osteopathie, Qi Gong, Hydro- und Kunsttherapie oder Akupressur zum Einsatz kommen. Die Patienten aktivieren so die körpereigene Selbstregulation und lernen etwa auch Strategien zur Schmerzbewältigung.

Integrative Medizin in der Praxis


In Deutschland praktizieren schon mehr als 60.000 Ärzte und Ärztinnen mit entsprechenden multimodalen Ansätzen, das zeigen Zahlen der Hufelandgesellschaft , dem ärztlichen Dachverband für Integrative Medizin. Stark repräsentiert ist die Integrative Medizin schon in der hausärztlichen Versorgung. Hier geben 60 Prozent der Ärzte und Ärztinnen einen Einsatz von Naturheilverfahren an – und kommen damit auch den Patientenwünschen entgegen: Laut einer aktuellen Umfrage sind ergänzende, also komplementäre Therapieangebote mehr als 60 Prozent der Bevölkerung wichtig.

Wer profitiert besonders von Integrativer Medizin und warum?


Patienten mit chronischen Erkrankungen ziehen aus einer integrativen Behandlung einen großen Gewinn – und inzwischen ist in Deutschland fast jeder Zweite ein Chroniker. Laut einer aktuellen Studie der Stiftung Gesundheitswissen haben 40 Prozent der Bevölkerung eine oder mehrere chronische Erkrankungen wie Bluthochdruck, Arthrose, Diabetes oder Rückenschmerzen. Hier bewährt sich eine therapeutische Herangehensweise, die nicht rein pathogenetisch ist und nicht nur Symptome kuriert. Stattdessen hat die Integrative Medizin den ganzen Menschen und seine individuellen Ressourcen nach dem Prinzip der Salutogenese im Blick. Das Konzept geht auf den Medizinsoziologen Aaron Antonovsky zurück, der es bildlich so ausdrückte: Das Ziel der Behandlung ist, dem Patienten das Schwimmen beizubringen, statt ihn bei Untiefen immer wieder aus dem Wasser ziehen zu müssen.

Worauf stützt sich die Integrative Medizin?


Integrative Medizin als evidenzbasierte Medizin (EBM) beruht auf dem Drei-Säulen-Modell nach Prof. David Sackett, dem Wegbereiter der EBM: Den Therapieentscheidungen liegen also neben der externen Evidenz durch Studien auch das Erfahrungswissen des Arztes sowie die Wünsche des Patienten zugrunde. So ergibt sich ein Miteinander von Wissenschaft und Heilkunde mit vielfältigen und individuellen Behandlungsoptionen. Zudem verfolgt die Integrative Medizin das Anliegen, wissenschaftliche Prozesse kontinuierlich weiter zu verbessern und verschiedene Verfahren durch seriös aufbereitete Studien weiterhin zu überprüfen.
Es gibt bereits vielversprechende Studien für etliche Verfahren, die teils so auch schon in Leitlinien verankert sind: „Viele der Naturheilkunde zugehörigen Verfahren wie Phytotherapie oder Entspannungstherapie haben inzwischen auch Eingang in die Leitlinien der klassischen Medizin gefunden“, so Dr. Michaela Moosburner, Chefärztin des Krankenhauses für Naturheilweisen (KfN) in München. Und ganz aktuell zeigt etwa die vom Bundesland Bayern geförderte IMBAY-Studie, dass es „für achtsamkeitsbasierte Interventionen gute Hinweise einer Wirksamkeit zur Behandlung des Reizdarmsyndroms gibt“, so Dr. med. Claudia Löffler. Dennoch sind weitere Studien wünschenswert, um die Anwendung von Integrativer Medizin mit weiterer Evidenz zu stützen und damit noch besser zugänglich zu machen. Die Hufelandgesellschaft etwa verweist auf einen Mangel an Forschungsmitteln .
Einige Kliniken in Deutschland arbeiten schon mit integrativen Ansätzen, beispielsweise das Krankenhaus für Naturheilwesen in München oder das Klinikum Heidenheim. Ein weiteres positives Beispiel ist das Klinikum in Bamberg, wo der gesundheitliche Zustand der Patienten systematisch vor und nach sechs Monaten geprüft und die Nachhaltigkeit des Erfolges dokumentiert wird. Hier ist ein Lehrstuhl der Universität Duisburg-Essen implementiert, der die Evaluation entsprechender Ergebnisse unterstützt.

Wie sieht es in anderen Ländern aus?


Ein Blick über die Grenzen zeigt: Weltweit bewegt sich viel in Richtung Integrative Medizin. In der Schweiz etwa ist seit 2009 in der Verfassung verankert, dass Verfahren der Komplementärmedizin in das Gesundheitssystem der Kantone zu integrieren sind. Und in den USA haben sich ab 1999 bis heute mehr als 70 akademische Institutionen – darunter die Harvard Medical School und die Stanford School of Medicine – zum „Academic Consortium for Integrative Medicine and Health“ zusammengeschlossen. Dessen Forschungsarbeit erhält eine staatliche Förderung von bis zu 159 Millionen US-Dollar pro Jahr. Landesweit sind Institute, Lehrstühle, Aus- und Weiterbildungseinrichtungen sowie Kliniken entstanden, die Integrative Medizin anwenden. Damit sich die Integrative Medizin auch in Deutschland weiter durchsetzen kann, braucht es noch mehr und regelmäßige staatliche Förderung.

Ein Blick in die Zukunft der Integrativen Medizin

Integrative Medizin steht für eine Medizin, die den Menschen und seine vielfältigen Bedürfnisse in den Mittelpunkt des therapeutischen Ansatzes stellt. Die dazu nötige intensive Kooperation fördert und fordert zugleich mehr Selbstreflektion und Verantwortung seitens der Behandler wie auch der Patienten. Wie viele Experten meinen, weist sie damit auch gesundheitspolitisch in die Zukunft. Schließlich stärkt Integrative Medizin die Handlungskompetenz der Patienten im Hinblick auf die eigene Gesundheit und kann so die Anzahl der Arztbesuche reduzieren. Zudem kann sie dabei helfen, den Einsatz von Antibiotika zu verringern sowie Umfang und Dosis konventioneller Medikationen zu senken.
Dies sind wichtige Schritte für eine ressourcenschonende Medizin der Zukunft. Oder wie es Prof. Dr. Benno Brinkhaus und Prof. Dr. Tobias Esch, die Herausgeber eines aktuellen Standardwerks zum Thema, auf den Punkt bringen: „Nur wenn es gelingt, die Medizin in Richtung Integrativer Medizin zu modernisieren, wird sie die gesundheitspolitischen Herausforderungen der Zukunft bewältigen können.“

Quellen:

https://www.hufelandgesellschaft.de/
Thanner M, Nagel E, Loss J. Komplementäre und alternative Heilverfahren im vertragsärztlichen Bereich: Ausmaß, Struktur und Gründe des ärztlichen Angebots. Gesundheitswesen. 2014;76(11):715-721.
https://www.gesundevielfalt.org/wp-content/uploads/2023/01/Medienmitteilung-Launch-Gesunde-Vielfalt.pdf
https://www.hufelandgesellschaft.de/integrative-medizin/zahlen-fakten
https://www.nccih.nih.gov/about/budget/nccih-funding-appropriations-history
Esch T, Brinkhaus B.(Hrsg.): Integrative Medizin und Gesundheit. MWV 2021

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