Prof. Dr. Beer: Gegen Widerstände und Vorurteile – ein Leben für die Naturheilkunde

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Er hat der Naturheilkunde ihre erste Habilitation nach dem Zweiten Weltkrieg verschafft. Und geht im Juli 2024 nach 27 Jahren als erster Direktor der Klinik für Naturheilkunde an der Klinik Blankenstein in Hattingen in den Ruhestand: Prof. Dr. André-Michael Beer, unermüdlicher Pionier im Dienst der Integrativen Medizin mit Schwerpunkt auf den klassischen Naturheilverfahren. Wie er sich in Zukunft für sein Herzensthema engagieren will, verrät er hier.

„Ich bin gerührt, fühle mich erkannt und habe das Gefühl: Vieles haste richtig gemacht“

Prof. Dr. André-Michael Beer, langjähriger Direktor der Klinik für Naturheilkunde an der Klinik Blankenstein

Als sich die lange Reihe der Gratulanten schließlich aufgelöst und jeder Platz genommen hat, als alle Reden gehalten sind und beinahe schon die Torte mit einem grasgrünen Marzipan-Buttercreme-Topping in Heilpflanzengartenform herangerollt wird, steht Prof. Dr. André-Michael Beer auf und geht ans Mikrofon. „Ich bin gerührt, fühle mich erkannt und habe das Gefühl, ,vieles haste richtig gemacht.‘“ Es ist wohl diese Mischung aus Ehrlichkeit, Humor und Selbstbewusstsein, mit der Beer als langjähriger Direktor der Klinik für Naturheilkunde an der Klinik Blankenstein in Hattingen (NRW) diese zu einer ganz besonderen Einrichtung gemacht hat. „Um die uns viele beneiden“, wie Prof. Dr. Christoph Hanefeld sagt. Der Kardiologe ist Medizinischer Geschäftsführer des Katholischen Klinikums Bochum (KKB), zu dem die Klinik Blankenstein gehört. Applaus brandet auf im großen Speisesaal im fünften Stock. Es ist der Beifall der vielen ehemaligen und aktiven Mitarbeitenden, der von Kollegen, Politikern, Weggefährten. Sie verabschieden nach 27 Jahren mit Respekt und Anerkennung einen Mann in den Ruhestand, von dem damals, 1997, nicht wenige argwöhnten, André-Michael Beer stehe einer „Heuklinik“ vor, an der „Blümchenschwestern“ arbeiten und womöglich Hand auflegen.


Von links: Dr. Stefan Fey, Oberarzt der Klinik für Naturheilkunde
Prof. Dr. Christoph Hanefeld, Medizinischer Geschäftsführer, Kath. Klinikum Bochum (KKB)
Dr. Sonia Birke Müller, Leitung der Klinik für Naturheilkunde (komm.) 
Christof Fritz, Standortleitung Klinik Blankenstein
Prof. Dr. André-Michael Beer, Leiter der Klinik für Naturheilkunde a.D.
Dr. Christian Raible, Kaufmännischer Geschäftsführer des KKB
Dipl. Oec. Franz-Rainer Kellerhoff, Geschäftsführer a.D.
Sabine Kesting, Pflegedirektorin des KKB

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Weggefährten verabschieden nach 27 Jahren den Leiter der Klinik für Naturheilkunde, Prof. Dr. André-Michael Beer

Die Realität sah und sieht schon immer anders aus: Auf Station 3 der Klinik Blankenstein stehen neben Schulmedizin alle klassischen Naturheilverfahren an, von Hydro-/Thermotherapie über Ordnungs-, Ernährungs- und Bewegungstherapie bis hin zur Pflanzenheilkunde. „Wir haben immer wissenschaftliche Phytotherapie betrieben“, betont André-Michael Beer. Bevor der Begriff der Integrativen Medizin überhaupt populär wurde, belegte er schon mit mehreren Studien, wie sehr gerade chronisch kranke Patienten von der kombinierten Behandlung aus Naturheilverfahren und Schulmedizin profitieren. Und er zeigte, wie pflanzliche Heilmittel ganz spezifisch auf Rezeptoren wirken können. „In der stationären Versorgung haben sich Naturheilverfahren als mindestens gleichwertig erwiesen“, sagt auch Dipl. Oec. Franz-Rainer Kellerhoff, ehemaliger kaufmännischer Geschäftsführer des KKB. Die Auslastung ist konstant hoch, jedes Jahr werden stationär mehr als 1.000 Patienten behandelt: „80 Prozent der Patienten mit Schmerzen am Bewegungsapparat profitieren von ihrem Aufenthalt bei uns länger als sechs Monate“, fügt Dr. Stefan Fey, Oberarzt der Klinik für Naturheilkunde hinzu. „Ich erlebe hier jeden Tag, wie die Menschen verändert weggehen“, sagt auch Beer. „Durch die einfachen Naturheilverfahren, vor allem auch der Phytotherapie, spüren sie: ,Ich wusste gar nicht, dass ich noch so viel Kraft habe und meine Schmerzen sich so deutlich verringern können.‘“
Der Bedarf an Behandlungen wie diesen ist hoch: Zwei Drittel der Patienten werden von Haus- und Fachärzten aus der Umgebung im Ruhrgebiet überwiesen, die übrigen kommen aus dem gesamten Bundesgebiet. Häufig gelten sie als „austherapiert“, die Kosten übernehmen alle gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen. Auch für die rund 4.000 Blutegel im Jahr, die bei chronischen Schmerzen oder venösen Störungen zum Einsatz kommen an einer von nur wenigen deutschen Kliniken, die stationär auch mit Naturheilkunde behandeln.

„80 Prozent der Patienten mit Schmerzen am Bewegungsapparat profitieren von ihrem Aufenthalt bei uns länger als sechs Monate“

Dr. Stefan Fey, Oberarzt der Klinik für Naturheilkunde

Prof. Dr. Beer wurde zu einem Pionier für Naturheilverfahren

Es war André-Michael Beer nicht in die Wiege gelegt, einmal zu einem Pionier für Naturheilverfahren in Deutschland zu werden. Der gebürtige Münchner, der sich sein leicht schnoddriges Bayerisch bis heute bewahrt hat, kommt indes schon als junger Erwachsener in Kontakt mit Komplementärmedizin: Als seine Schwester an Diabetes Typ 1 erkrankt, „musste sie öfter als Notfall in die Klinik, wo die Ärzte ihr Leben retteten. Damals war der juvenile Diabetes noch relativ unbekannt“, erinnert sich Beer.“ Die Medikamente halfen seiner Schwester, ihre Lebensqualität jedoch litt. „Ein Heilpraktiker hat ihr dann Phytotherapeutika verordnet und homöopathische Mittel.“ Die Erkrankung blieb bestehen, aber ihr Wohlbefinden verbesserte sich dadurch enorm. Diese Erfahrung nennt er „mein Schlüsselerlebnis“, „da habe ich mich auf den Weg gemacht.“ Noch in München schließt er mit gerade mal 25 Jahren eine Ausbildung zum Heilpraktiker erfolgreich ab, lässt dann an der RWTH Aachen ein Medizinstudium folgen.

„Schon damals habe ich die Möglichkeiten gespürt, die sich aus der Integrativen Medizin ergeben!“

Prof. Dr. André-Michael Beer

Auch aus Liebe zu den Naturheilverfahren entscheidet sich Beer für eine Facharztausbildung in der Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Denn: „Besonders auf diesem Gebiet kann etwa die Phytotherapie sehr viel erreichen.“ Bei Prof. Dr. med. Claus Botho Goecke in Aachen, einem bekannten Gestoseforscher und Balneogynäkologen, tritt er seine erste Stelle an. Und er beginnt, sein Wissen aus der Heilpraktikerausbildung „differenziert in die Schulmedizin hineinzutragen.“ Sein Mentor bemerkt Beers Begabung für die Naturheilkunde und bittet ihn, für das ganze Krankenhaus die Konsile zu machen: „Schon damals habe ich die Möglichkeiten gespürt, die sich aus der Integrativen Medizin ergeben!“ Verschiedene Anwendungen mit dem Naturheilmittel Moor setzt Beer bis zum Schluss seiner Tätigkeit auch in Blankenstein ein. Er hat das Vielstoffgemisch und sein heilendes Potenzial inzwischen mehrfach in wissenschaftlichen Arbeiten untersucht.
Zwei Jahre lang leitet der junge Mediziner eine balneogynäkologisch-onkologische Rehabilitationsklinik in Bad Kissingen, bis er schließlich 1997 die damalige „Modellabteilung für Naturheilkunde“ an der Klinik Blankenstein, damals noch das St. Elisabeth-Krankenhaus, übernimmt. „Es war eine großartige, aufregende und intensive Zeit“, erinnert sich Christof Fritz, Standortleitung der Klinik Blankenstein, während der feierlichen Verabschiedung Mitte Juni. „Wir mussten uns weiterbilden in Sachen Naturheilkunde, durften lernen, Tag und Nacht.“ Wurde es sehr spät, ließ Beer für alle Pizza kommen. „Sie waren, wie viele große Persönlichkeiten der Naturheilkunde, unbequem“, fügt Fritz unter Gelächter in seiner Laudatio an Beer hinzu. Das musste dieser wohl auch sein. Gegen etliche Widerstände und Vorurteile, das wird in verschiedenen Reden deutlich, behauptet sich Beer. Zu seinen Gästen an diesem Tag im Juni 2024 gehört auch Birgit Fischer, in deren Zeit als nordrein-westfälische Gesundheitsministerin (SPD) der Übergang von der Modellabteilung für Naturheilverfahren in die offizielle Anerkennung als Regelversorgung fällt. „Mit wissenschaftlich etablierter, klassischer europäischer Naturheilkunde brauchen wir nicht nach Ayurveda, TCM oder Tibetischer Medizin zu schielen“, sagt Dr. Fey stolz. Als „Meilenstein für die Entwicklung der Klinik“ bezeichnet er die Habilitation von André-Michael Beer 2004 in Naturheilkunde – der damit der Medizin in Deutschland ein neues akademisches Fach eröffnete.

med in Hattingen: „Das ist ein einzigartiger Verband, und dass Ärzte mit Patienten immer mehr auf Augenhöhe sprechen, ist sicher auch der Naturheilkunde zu verdanken“

Bürgermeister Dirk Glaser

Es ließe sich noch vieles ergänzen, was der umtriebige Kommunikator André-Michael Beer in seiner Zeit als Klinikdirektor noch alles auf den Weg bringt. Dazu gehört sein Engagement für das Veranstalternetzwerk „med in Hattingen“, das alle gesundheitlichen Einrichtungen der Stadt zum Wohle von Patienten an einen Tisch bringt. „Das ist ein einzigartiger Verband, und dass Ärzte mit Patienten immer mehr auf Augenhöhe sprechen, ist sicher auch der Naturheilkunde zu verdanken“, betont Bürgermeister Dirk Glaser, denn sie sähe die Menschen ganzheitlich. „Danke für diese wertvolle Arbeit für die Gemeinschaft!“, fügt er hinzu.

Tatsächlich können sich Beers Erfolge auch im wahrsten Sinne des Wortes sehen lassen: Hinter der Klinik Blankenstein wurde auf dessen Initiative hin ein parkähnliches Gelände mit einem Heilpflanzenpfad angelegt. Hier können Patienten durchatmen und Salbei, Dost, Lavendel, aber auch Eibe und Fingerhut (Digitalis) bei einem Spaziergang in der Natur erleben.
Auch den medizinischen Nachwuchs hat er stets im Blick: Als Professor für Naturheilkunde unterrichtet Beer bis zum Schluss seiner beruflichen Tätigkeit nicht nur an der Ruhr-Universität Bochum. „Er hat auch viele Jahre die Weiterbildung in Naturheilverfahren hochgehalten“, wie Elisabeth Borg von der Ärztekammer Westfalen-Lippe in ihrem Grußwort sagt, „wir haben Nachfragen aus ganz Deutschland dazu.“ Sonia Birke Müller, Fachärztin für Innere Medizin an der Klinik für Naturheilkunde, tritt in die großen Fußstapfen von Prof. Dr. Beer; sie ist auch die neue, zunächst kommissarische Leiterin der Klinik für Naturheilkunde in Hattingen. Zudem wird sie die privatärztliche Ambulanz und Praxis weiterführen.

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Stärkt alle Knochen im Körper: „Beinwell“ am Heilpflanzenlehrpfad

Den Vorsitz im Ausschuss für Wissenschaft, Forschung und Entwicklung im Deutschen Heilbäderverband wird Prof. Dr. Beer weiterführen.

Und André-Michael Beer? „Ich mache erst einmal Pause von der Naturheilkunde“, sagt er lächelnd einen Tag nach der offiziellen Verabschiedung. Aber diese wird nur von kurzer Dauer sein. In Zukunft hat der begeisterte Musiker, der in einem Orchester, aber auch mit einem eigenen Duo und Trio Geige und Klavier spielt, Klassisches und ein wenig Swing, endlich mehr Zeit dafür. In Geschichte will er sich zudem vertiefen, nicht nur in die der Medizin. Und er will „hinfühlen, in welchen Fachgesellschaften ich mich weiter einbringe. Sicher ist: Den Vorsitz im Ausschuss für Wissenschaft, Forschung und Entwicklung im Deutschen Heilbäderverband wird er weiterführen. Beim 120. Deutschen Bädertag im November in Bad Nauheim wird er seine Vision davon vorstellen, wie Kurorte sich für das 21. Jahrhundert fit machen können.

Der engagierte Mediziner hat die Anwendung der jeweiligen Heilmittel vor Ort in Verbindung mit klassischen Naturheilverfahren im Sinn. Darin sieht er einen Ansatz, die Prävention stärker zu fördern, woran den Krankenkassen gelegen ist. Die Vorteile, die klassische Naturheilverfahren gerade in dieser Hinsicht bieten, liegen für Beer auf der Hand: So können diese mit einfachen Mitteln das vegetative Nervensystem stärken, ins Gleichgewicht bringen und so vorbeugend eingesetzt werden. „Krankheit entsteht unter anderem, aus der Sicht der Naturheilkunde, wenn das Vegetativum aus der Balance gerät. Dann können verschiedene chronische Erkrankungen die Folge sein.“ Unstrittig für Beer ist auch, dass er sich als Mitglied des Beirats der Gesunden Vielfalt weiterhin für Integrative Medizin stark machen will, „um meine Erfahrungen einzubringen und weiterzugeben, was ich gelernt habe.“
Prof. Dr. André-Michael Beer hat nicht nur Vergangenheit und Gegenwart der Klinik Blankenstein aktiv geprägt. Sein Tun wirkt auf vielleicht ungeahnte Weise auch in die Zukunft. In einer Zeit der Krankenhausreformen steht das Haus auch deshalb gut da, weil es mit seiner Integration von Naturheilkunde und Schulmedizin eine vom Gesundheitsministerium bevorzugte stationäre Spezialisierung vorweisen kann.

© Andrea Freund

Altbau der Klinik Blankenstein

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